Augen geschlossen, Mund weit aufgerissen. Stille im Raum. Bis auf die eine durchdringende Stimme. Das wohlbekannte, Gänsehaut erzeugende Timbre, eingehüllt von wohlig warmen, leicht kratzigen Höhen, denen sich Sänger Nathan Gray gerade sichtlich hemmungslos hingibt und seine Zuhörern damit glauben lässt, für den Moment könnten sie einfach alles erreichen. Alles fühlen. Alles leben. Denn der Frontmann der Punk-Postcore-Band Boysetsfire macht genau das gerade auf der Bühne im Hamburger Grünspan: Er lebt den Moment. Und das mit jeder Faser seines Körpers und seines Gesangs- sowie Lyric-Talents.
Nur ist es heute nicht die übliche Besetzung der sechs Boys […]
Es ist der 9. März 2019. Schietwetter, eben typisch nordisch. Ein, zwei Bierchen genehmigt, wie es sich traditionell für einen Konzertabend mit Boysetsfire gehört, und auf in eine der aufregendsten Städte, die Deutschland zu bieten hat. Hamburg. Genauer gesagt: Sankt Pauli. Nur ist es heute nicht die übliche Besetzung der sechs Boys – okay, seit ihrer Gründung 1994 sind die Boys schon ein wenig in die Jahre gekommen – aus Delaware (USA). Vielmehr freut sich die Partycrew heute darauf, den Leadsänger Nathan Gray als Solokünstler auf der Bühne erleben zu können.
Nach dem großen Aufschrei 2006, als es hieß, Boysetsfire lösen sich auf, gab’s 2010 aber auch schon wieder das große Aufatmen: Boysetsfire kommen zurück, was sie 2011 – seither immer wieder in leicht abgeänderter Besetzung – auch taten.
Und Nathan Gray macht mir nichts dir nichts einen auf solo. Also, eigentlich auch schon länger. 2015 entstand so auch eine EP: Nthn Gry. Drei Jahre später dann auch das auf eine Platte gepresste Ereignis, mit dessen Auszügen Gray die Crowd nun im Grünspan auf dem Hamburger Kiez bezirzt. Name: Feral Hymns. Kaufempfehlung: hoch. Davor und dazwischen immer wieder Seitensprünge mit seinen Bands I Am Heresy, welche er übrigens mit seinem Sohn Simon bespielte, und Casting Out.
[…] Leadsänger Nathan Gray als Solokünstler auf der Bühne […]
Seine Wurzeln hat Gray bei seinem Alleingang jedoch stets im Gepäck; nicht nur der Sound ist teilweise sehr an Boysetsfire angelehnt, auch trällert Gray gern auf seinen Solo-Auftritten einige der Stücke der Band, mit welcher er die meiste Zeit seines Musiker-Lebens verbracht hat. „My Life In The Knife Trade“ als Beispiel. Eine sehr gefühlvolle Akustikgitarren-Ballade – gibt es kaum andere Fachrichtungen in Grays Repertoire –, die schon die Fans auf dem zweiten Studioalbum After the Eulogy begeisterte.
Geduldig, etwas zittrig warten die Menschen.
Die kleine Reisegruppe, die sich nach der gewaltigen Stimme des stark tätowierten Mannes sehnt, ist mittlerweile regengetränkt im Grünspan angekommen. Geduldig, etwas zittrig warten die Menschen. Dann ist er da: Nathan Gray. Der Mann, der sich als Satanist bekennt. Nicht etwa, weil er Luzifer anbetet. Im Gegenteil. Gray sagt, für ihn sei es eine andere, eine bessere Form, Individualismus auszudrücken, ihn zu leben. Die eigene Persönlichkeit in all ihren Facetten zu akzeptieren, anzunehmen. Er brauche keine Gottheit, der er huldigen müsse, um sein Leben auf die für ihn richtige Weise führen zu können. Wichtige sei doch, die eigene Persönlichkeit zu entfalten, dazu müsse man sich nicht an etwas oder jemanden messen.
Die Texte, die so schön verpackt, in Akustikgitarre, Cello, manchmal elektrisch, und immer wieder diese Stimme.
Und dann diese starken Texte. Von der Welt. Von der Liebe, von Hass. Von Menschen. Vom Leben, vom Tod – von Verderb und Gedeih. So leidenschaftlich, so intim. So fordernd, so sanft. Zurückhalten und doch aggressiv. So politisch, religiös, anti – so solidarisch. So auch heute Abend in Hamburg. Die Texte, die so schön verpackt, in Akustikgitarre, Cello, manchmal elektrisch, und immer wieder diese Stimme. Die Stimme, die es schafft, dass nun alle starr stehen, das Bier in der Hand vergessend. Eigentlich alles vergessend, was diese Welt je von sich gegeben hat. Nur lauschend.
Und Gray? Der steht dort, angestrahlt vom Zwielicht gedimmter Scheinwerfer, singt aus zitternder Kehle. Augen geschlossen, Mund weit aufgerissen. Stille im Raum. Nur die Stimme, die „Walk“ singt. Man möchte seinem eigenen Herzschlag sagen: Psst, nicht so laut.
Danke Nathan Gray.